Wann ist
Unterricht gut?
"Wann ist Unterricht gut?" Naive
Reformmentalität als Wegweiser in die
Dekadenz
Wir leben, was die Qualität des Unterrichts
anbelangt, im Würgegriff des Marketings. Eine
zufällige Auswahl aktueller Schlagwortkonzepte zur
Qualität des Unterrichts: Methodentraining,
Qualitätsmanagement, Prozessorientierung, der
Lehrer als Organisator selbstgesteuerter
Lernprozesse, Steuerungsgruppen,
Zielvereinbarungen. Nicht die tatsächliche Qualität
ist wichtig, sondern der Eindruck von Qualität. Und
der wird durch Begriffe hergestellt. Was gut klingt,
ist gut. Alt ist schlecht - neu ist gut. Wirklich?
Von allen guten Geistern der Versuchsplanung verlassen, werden
Produkte in den Markt gedrückt, die das Papier nicht wert sind, auf
dem die Fortbildung dazu angekündigt wird. So wird etwa aktuell
eine Rechtschreibwerkstatt für Schulanfänger von der Schul-
administration wie ein Illustriertenabo von Schultür zu Schultür
angedient, das kürzlich bei einer längsschnittlichen Vergleichs-
studie noch schlechter abgeschnitten hat als die Kontrollgruppe
(Instruktion: „Machen Sie, was Sie wollen...“) - Sieger wurde ein
Fibel-Programm ohne Schnickschnack und ohne Experimente. Der
Reformeuphorie wurde der Sachverstand geopfert - nahezu alle
modernen Schlagwortkonzepte sind empirisch nicht getestet
worden. Oder einer so wachsweichen, also qualitativ- diskursiven,
dialogischen Evaluation unterzogen worden, dass das Ergebnis
nichtssagend ist.
Und in der Lehrerausbildung fuhrwerken Phraseologen herum, die
in der konkreten Umsetzung schmählich versagen. „Bachelor of
Chaos and Master of Desaster“ titelte der ASTA einer NRW
Reformuniversität und mahnt an: „so entstand ein Weg, gepflastert
mit Wunschvorstellungen, der sich jetzt in eine Schlagloch-Piste der
Alpträume verwandelt hat.“...“Fehler einer naiven Mentalität der
Reformmacherinnen... bringen den Bachelor in Bedrängnis. “
Und genau diese naive Reformmentalität verhindert, dass ernsthaft
- also praktisch und wissenschaftlich - und redlich über die Qualität
von Unterricht und Schule geredet, vorgemacht und geforscht
wird. Das Eingangsportal ist die internationale empirische
Unterrichtsforschung - Methoden, die besser sein wollen, müssen
sich im Experiment, im Doppelblindversuch bewährt haben.
Hierzu brauchen wir eine unterrichtswissenschaftliche
Infrastruktur, also Hochschulen, die wirklich und engagiert an der
tatsächlichen Verbesserung von Unterricht forschen. Und scharfe
Methoden-TÜVs (etwa wie die britische Campbell Collaboration),
die dafür sorgen, dass neue Methoden ihre Effizienz empirisch
beweisen. Oder: die erfolgreichen Methoden müssen aus der
Bewährung an der Basis entstehen, von Meisterlehrern und -
lehrerinnen tausendfach erprobt und auf dem Wege des
Vormachens- Nachmachens weitergegeben worden sein, eine
unterrichtspraktische Infrastruktur also. Und beide Strukturen
müssen sich kennen und im Austausch stehen. Und Professoren,
Fachleiter und Seminarleiter können den guten Unterricht aus dem
Stand vormachen. Der gute Praktiker kennt die wissenschaftlichen
Untersuchungen - die gute Wissenschaftlerin kann in der Praxis
handeln. Alles andere ist - mit Verlaub - ein Weg in die Dekadenz.
Wann ist Unterricht gut? Die bisherigen Antworten der
empirischen Unterrichtsforschung haben denn auch eine Anzahl
von Überraschungen parat - „überraschend“ natürlich nur für jene,
deren Koordinatensystem durch den Marketingschwulst definiert
wird. Ein paar Beispiele. Die PISA Siegerländer Finnland, Korea
und Japan praktizieren - cum grano salis- einen stark
lehrerzentrierten Unterrichtsstil. In Finnland gelten nur schriftliche
Leistungen - keine „Leistungen in der mündlichen Mitarbeit“.
Oder: der wichtigste Einflussfaktor für guten Unterricht ist eine
gute Klassenführung (Group management), d.h. es gibt keine
Störungen und die Schüler machen mit (Apropos: Wissen Sie wie
das geht? - Vielleicht lesen Sie mal Kounin...). Oder: Man kann mit
sehr unterschiedlichen Methoden gleich gute Leistungen erzielen -
mit Frontalunterricht ebenso wie mit einer hohen Variabilität der
Sozialformen. Oder: Alle Kennzeichen des guten Unterrichts sind
untereinander kompensierbar - die missionarische Festlegung auf
ein Konzept, einen Ansatz ist kontraproduktiv und entsolidarisiert
Lehrerkollegien....Oder: Enthusiasmus für den Stoff, ein gutes
Verhältnis zu den Schülern ist nach wie vor lernfördernd. Oder:
Gute und disziplinierte Schüler können in jeder Form des
Unterrichtes lernen. Sie kompensieren schlechten Unterricht wie
umgekehrt guter Unterricht schlechte Schülereigenschaften... Oder:
einen guter Lehrer/eine gute Lehrerin erkennt man am guten
Unterricht und an der guten Unterrichtsvorbereitung - nicht an
seinen extracurricularen Engagements... (Bei diesem Satz übrigens
verließen aus Protest eine Seminarleiterin und ein Fachleiter
meinen Vortrag.) In der Tat: Diese absurde Meinung, dass nicht
zum Unterricht gehörende Aktivitäten - so schön sie für das
Schulleben auch sein mögen - wichtiger als die Kernaufgabe
Unterricht seien, die gibt es. Und ein universitärer Kollege hält gar
die Konferenz für die wichtigste Lehrerfortbildung überhaupt.
Verkehrte Unterrichts-welt.
Wann ist Unterricht gut? Trotz des immensen praktischen und
wissenschaftlichen Wissens bleibt der Weg zu seiner Realisierung
steinig und u.U. langwierig. Moderne Wissenschaft weist den Weg
hin zu einem individuellen Unterrichtsstil, abgestimmt auf eigene
Möglichkeiten und die der Schüler. Aber ohne Beliebigkeit. Die
Derivate des Qualitätsmanagements - entwickelt für die Produktion
von z.B. Ölsardinenbüchsen, Hosenträgern und
landwirtschaftlichen Gefährten - sind in naiver Reformmentalität
auf Unterrichtsentwicklung übertragen worden. Ihr Kerngedanke
ist von geradezu münchhausischer Qualität: wir ziehen uns an den
Haaren selber aus dem Sumpf. Durch beständige
Zielvereinbarungen, Evaluationen und eigenes Nachdenken finden
wir den Königsweg zur Qualität - ein Märchen. Dabei ist die
Ursachensuche nach einem Evaluationsdesaster wie ein Stochern
im Nebel: möglicherweise wird das Gute schuldig gesprochen, das
Schlechte als Qualität gefeiert. Ohne eine bedingungskontrollierte,
empirische Unterrichtsforschung kann die Isolation und
Bestimmung der Bedeutung einzelner Faktoren nicht gelingen. Die
Qualitätsentwickler sollten ihre faden, hohlen Flowchart s, die
jeglichen psychologischen, schulpädagogischen oder
fachdidaktischen Inhalts entbehren, mit einem dreifachen „delete“
dorthin entsorgen, wo sie hingehören: in den Papierkorb.
Guter Unterricht setzt eine inhaltliche Diskussion über konkrete
wissenschaftliche und konkrete praktische Probleme voraus. Bei
aller Methodenfreiheit: Gruppenführung, die man als erfolgreiche
Kompensation der Nachteile eines Kollektivs bezeichnen kann (von
mir als „psychologische Reduzierung der Gruppengröße“
bezeichnet) ist so wichtig wie Klarheit, fachliches Wissen,
fachdidaktische Versiertheit und schulpädagogisches Augenmaß,
psychologisches Verständnis für Schüler und ein ausgeprägter Spaß
an der Leistung. Sozialwissenschaftliche Kompetenz hat uns -
nichts gegen die faszinierende Soziologie - die rektale
Zahnbehandlung eingebracht: innovativ, aber umständlich.
Strukturelle und organisatorische Reformen, so das Fazit einer
Metaanalyse an 15000 Beziehungen zwischen Faktoren der
Unterrichtsqualität und ihren Effekten, sind von minderer
Bedeutung. Die Zahnbehandlung wird auch 2050 noch oral
durchgeführt werden.
Das Wichtigste zum Schluss: Lehrkräfte, denen das Unterrichten
Freude bereitet und die am Nachmittag ausreichend Zeit haben,
den Unterricht professionell vorzubereiten. Ein Lehrer ist kein
Bürokratiesklave, den man in nachmittäglichen
Konferenzmarathons verschleißen könnte und der die
vormittäglichen Unterrichtsstunden als Organisator
selbstgesteuerter Lernprozesse verdösen muss. Nein - er muss
unterrichten.
Rainer Dollase
“Wann ist Unterricht gut? Mehrperspektivische Bewertung und
Analyse von Unterricht.” Prof. Dr. Rainer Dollase, Universität
Bielefeld, Abt. Psychologie
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