Das Methodenkasperle
von Gabriele Frydrych
Das Referendariat hat mir unheimlich viel gebracht. Nicht meins. Das
meiner Stieftochter. Wie die meisten Lehrer habe ich mich seit dem Ersten
Weltkrieg nicht mehr fortgebildet, und so war die zweite
Ausbildungsphase meiner Stieftochter auch für mich sehr lehrreich.
Dankbar kopiere ich all die wundervollen Dinge, die man ihr mit auf den
pädagogischen Parcours gegeben hat.
Für meine neue 7. Klasse habe ich am Strand 31 große Steine gesammelt
und sie mit der Wurzelbürste sauber geschrubbt (= symbolischer Akt für
meinen Willen zum Neubeginn). Die Schülerinnen und Schüler haben
ganz schnell "begriffen", dass sie die Grundsteine ihrer schulischen
Bildung in die Hände bekommen haben und dass diese Kiesel sinnbildlich
für all die Steine stehen, die sie im Leben schlucken müssen. Es sind auch
Zaubersteine: Wenn man sie fest drückt und ganz still in sich hineinhört,
erzählen sie einem die schönsten Geschichten. Wir spielen pantomimisch
einige Redensarten: ein Stein fällt vom Herzen, Stein und Bein schwören,
den Stein der Weisen suchen. Im Nu ist die erste Stunde vorbei, die
Kinder laufen begeistert auf den Hof und üben: "….. der werfe den ersten
Stein!"
Derweil verteile ich 31 Toblerone-Schachteln auf den Tischen. Natürlich
leer. Ich mäste doch meine Schüler nicht mit Fett und Zucker! Nachher
verklagen sie mich noch... Wenn mein eigener Mathe- Lehrer für mich
früher detaillierte Förderpläne aufgestellt hätte, könnte ich die Toblerone-
Schachteln sicher korrekt benennen. Prismen, Rhomben? Nur soviel: Sie
sind dreieckig und haben drei längliche Flächen, die wir jetzt bunt
bekleben. Sollte ich mich ausnahmsweise zu politisch unkorrektem
Frontalunterricht (pfui, baba!) hinreißen lassen, zeigen mir die Schüler die
Toblerone. Sehe ich die blaue Seite, heißt das: "Sehr interessant, Frau
Frydrych. Ich lausche Ihnen fasziniert!" Kritisch wird es, wenn mir die
gelbe Fläche zugedreht wird: "Ihr Vortrag beginnt mich zu langweilen! Ich
möchte jetzt selbstbestimmt an meiner Methodenkompetenz arbeiten!"
Sehe ich die rote Toblerone-Seite, ist es leider schon zu spät. Der Schüler
hat sich in die innere Emigration zurückgezogen und bedeutet mir, ihn zu
wecken, wenn ich fertig bin. Das gelingt mir höchstens noch mit einem
kleinen Laufdiktat. Ich hänge die Übungstexte an die Sporthalle, und die
Schüler galoppieren dorthin, um sich - je nach Gedächtnisleistung - einen
Satz oder ein Wort einzuprägen und im Klassenraum zu notieren. Die
Deutschfachleiterin meiner Stieftochter schwört auf Laufdiktate. Mich
stimmen die schlechten Ergebnisse meiner Schüler eher missvergnügt -
methodische Verkrustungen beim Lehrpersonal sind halt nur schwer
aufzubrechen. Dabei habe ich die "freizeitorientierte Schonhaltung" längst
hinter mir gelassen und widme mich intensiv meiner "qualifizierten
Selbstevaluation".
Die Lehrerin hält sich zurück!
Trotzdem fallt es mir noch sehr schwer, Kontrollsucht und Machtstreben
aufzugeben. Aber meine Stieftochter hat im Seminar gelernt: Die Lehrerin
hält sich zurück. Sie lenkt nicht, greift nicht ein und drängt sich nicht auf.
Sie bereitet lediglich das Material so genial zu, dass die Schüler selber
herausfinden, was sie lernen sollen - ich meine natürlich: wollen. Ich kann
mich leider kaum bremsen, wenn Schüler bei der Gruppenarbeit Walkman
hören, wenn nur einzelne intensiv arbeiten und die anderen einfach
abschreiben, wenn falsche Ergebnisse präsentiert werden und mein
binnendifferenzierendes Zusatzmaterial unbeachtet liegen bleibt. Ich weiß,
das wird sich mit der Zeit alles von selbst regulieren. Nur - wo kommt die
Zeit dafür her? Ich beiße - wie so oft in den letzten Wochen - auf meinen
linken Daumen und lächle tapfer. Mein Hausarzt hat mir besorgt die
Adresse einer Gesprächsgruppe in die Hand gedrückt: "Schmerz als
Schrei der Seele".
Ich bin aber schon in zwei anderen Gruppen organisiert:
"Handpuppeneinsatz im Geschichtsunterricht" und "Kreatives
Selbstmanagement". Heute lernen wir Zaubertricks für Anfänger. Ja, auch
der "Phantasiemuskel" muss trainiert werden, will ich meinen Schülern
"Gedankenbonbons", "Traumreisen" und "Sprech-Räume für
Erzähllandschaften" bieten. Mit einem Methodenkoffer voller
"Schreibanlässe", "Hör- und Fühltagebüchern" und anderen
Fördermodulen verlasse ich hochzufrieden die teure Fortbildung. Ich
spüre, wie tief in mir das "motivationale Fundament" stetig wächst.
Zu meiner völligen Verblüffung habe ich übrigens auch gelernt, dass
Humor im Schulalltag ganz wichtig ist!!! Einem berühmten Hamburger
Pädagogikpapst (einem Exorzistenkollegen von Onkel Lenzen) folgend,
stürze ich mich einmal täglich auf einen Schüler, wahlweise auch auf eine
Schülerin, bohre ihm oder ihr meinen Finger in den Bauch (falls er durch
Kleidung verhüllt ist) und sage mit gespielter Entrüstung: "Du warst es!!!
- Ich weiß zwar nicht, was du gemacht hast, aber - du warst es!" Die
anfängliche Irritation weicht befreiendem Gelächter. Und schon habe ich
mit geringem Aufwand für eine entspannte zwischenmenschliche
Atmosphäre gesorgt. Dieser humorvollen Attacke folgen in der Regel die
ergiebigsten Unterrichtsergebnisse!!! Wie von Zauberhand!!!
So, ich muss jetzt noch 29 individuelle Grammatikarbeitsbogen erstellen
und zwei Lektionen Kirigisisch für meine beiden Hochbegabten
ausarbeiten!
© strapp 2020